TOVIAS
2018/19
augmentierte Rauminstallation
500 x 325 cm
Betreuender Entwickler: André Selmanágić
Theresa Reiwers AR-Arbeit TOVIAS ist Teil eines von der Künstlerin eigens gebauten Narrative Space. Das Narrativ der immersiven Installation besteht darin, dass diese von der fiktive Firma WELCOME HOME in schmerzhaft zugespitztem Marketing-Jargon als Smart-Home-Prototyp der Reihe SLOW ROOMS beworben wird. Beglaubigt wird die Fiktion durch ausdifferenziertes Corporate Identity, Webseite und Social Media-Auftritte sowie durch Print-Broschüren, in denen etwa zu lesen ist: „Egal, ob es um die Wahl der Dinnermusik, das Bild im Flur oder die richtige Lichtstimmung geht: Ihr Ambience Enhancer weiß schon was Sie brauchen, bevor Sie es wissen.“
Der Theatergast wird in dieser Geschichte zum Probewohnen eingeladen. Binnen 20 bis 30 Minuten darf das Smart Home in absoluter Isolation getestet werden. Dadurch, dass die Wohnung nur allein betreten werden kann, wird die gesamte Erfahrung intensiviert und das neue Zuhause kann seine „zertifizierten Entspannungs-Tools“ individualisiert einsetzen. Neuestes Feature der SLOW ROOMS ist das TOVIAS-Paket. Der Name steht dabei für „Tool for Virtual Associate“, ein Add-On, das dem Smart Home Leben einhauchen soll. Mittels entsprechender Technik erfahrbar, sorgt TOVIAS dafür, dass man sich in einem SLOW ROOM niemals alleine fühlt – es sei denn, man möchte dies. Auf Knopfdruck an- und ausschaltbar, vereint er, so die Broschüre, alle positiven Effekte der Gemeinschaft, ohne deren Nachteile mit sich zu bringen. Ob das menschliche Grundbedürfnis nach Gesellschaft wirklich so einfach zu befriedigen ist, gilt es in Reiwers Installation empirisch zu erforschen: Mittels einer HoloLens lässt sich ein leicht geisterhaft wirkender AR-Avatar wahrnehmen, der wie selbstverständlich alltäglichen Beschäftigungen in der Wohnung nachgeht.
Nur oberflächlich übertüncht das Corporate Design der WELCOME HOME dabei mit seinen Pastellfarben eine Dystopie, bei der Selbstoptimierungszwänge und unreflektierte Technikbegeisterung im Mittelpunkt stehen und in der das vermeintlich traute Heim zur fremdbestimmten Isolationszelle mutiert. Die Arbeit Theresa Reiwers steht damit in einer Tradition nicht unrealistischer Zukunftsvisionen, die von George Orwells 1984 über Juli Zehs Corpus Delicti bis hin Fernsehserie Black Mirror reichen. Der technische Fortschritt im Zuge der Digitalisierung ist atemberaubend – und dies kann, so verdeutlicht Reiwers Narrative Space, bei mangelnder Reflexion und Rückkopplung mit den Werten einer freien Gesellschaft durchaus wortwörtlich verstanden werden.
Theresa Reiwers Anwendung wurde mithilfe einer Microsoft Hololens umgesetzt, die dem Nutzer einen hohen Grad an Immersion und freie Hände während des Augmented Reality Erlebnisses erlaubt. Der virtuelle humanoide Mitbewohner wurde mithilfe von Adobe Fuse in 3D modelliert und mittels dem Online-Tool Mixamo mit einigen grundlegenden Animationen (wie etwas für Gehen, Sitzen oder Auf-dem-Smartphone-Tippen) versehen. Die verschiedenen Animationsstadien und damit die unterschiedlichen Handlungen des virtuellen Mitbewohners werden durch eine Utility-basierte Künstliche Intelligenz kontrolliert, wie sie etwa von Computerspielen wie Die Sims bekannt ist. Dabei hat der Mitbewohner eine Reihe verschiedener Bedürfnisse (Hunger, Müdigkeit, Langeweile, …), deren Variablen sich durch vergehende Zeit und andere Handlungen stetig ändern. Der humanoide Charakter handelt schließlich stets nach dem aktuell dringlichsten Bedürfnis, während er sich durch die Wohnung bewegt.
Text: Theresa Reiwer, Maja Stark und Elisabeth Thielen
Über die Künstlerin:
Theresa Reiwer studierte Theater und Film an der Freien Universität Berlin und der Bilgi Üniversitesi in Istanbul. Für ein anschließendes Studium in Bühnen- und Kostümbild an der Kunsthochschule Berlin Weißensee erhielt sie das Mart Stam Stipendium. Sie arbeitete für die Performance-Gruppe Showcase Beat Le Mot und realisierte mehrere eigene Projekte, etwa im bat-Studiotheater in Berlin und im Gauß-Theater Hamburg. Der Spielfilm Jibril, für den sie das Produktionsdesign entwarf, wurde im Rahmen der offiziellen Auswahl der Berlinale 2018 gezeigt und erhielt den Preis des Studio Hamburg als „Bester Film“. Als Fotografin hat sie Arbeiten in Gruppenausstellungen gezeigt und Music Artwork gestaltet. Als Lichtdesignerin realisierte sie darüber hinaus mehrere Multimedia-Installationen. Derzeit befasst sie sich mit digitaler Medienkunst einschließlich Augmented Reality.